Stefanie Duttweiler
Reflexive Ansätze in der Sozialen Arbeit
Der Begriff „Reflexive Sozialpädagogik1“ fasst verschiedene Ansätze zusammen, die ein gemeinsames Erkenntnisinteresse vereint: Sie alle reflektieren über Sozialpädagogik; ihr Gegenstand ist also die Sozialpädagogik selbst, denn es ist unklar, was Soziale Arbeit beziehungsweise Sozialpädagogik ‚eigentlich‘ ist. Das ist weder durch eindeutig abgegrenzte Problemlagen, die in der Theorie bearbeitet werden, noch durch Handlungsfelder oder einen bestimmten methodischen Zugang der Praxis hinreichend bestimmt. Um das Charakteristikum der Sozialpädagogik zu ermitteln, fragen reflexive Ansätze daher nach den Gemeinsamkeiten von Disziplin und Profession.

Grundfrage des Ansatzes Was macht Sozialpädagogik aus?
Reflexive Ansätze gehen von folgender Grundannahme aus: Die Gegenstandsbestimmung – also die Antwort auf die Frage, was Sozialpädagogik ist – ergibt sich erst im und durch den Diskurs über Sozialpädagogik. Das heisst in „kommunikativ geleisteten Prozessen der Sinnstiftung“ (Winkler, 1988, S. 36), die Bedeutung hervorbringen und damit Wirklichkeit schaffen.
Wenn also das, was Sozialpädagogik ausmacht, erst im Diskurs entsteht, stellen sich sofort weitere Fragen: Was unterscheidet den sozialpädagogischen Diskurs von anderen Diskursen? Wie setzt er sich zusammen? Welche Effekte ergeben sich daraus? Der sozialpädagogische Diskurs, so führt Michael Winkler aus, wird aus „tradierten und konventionalisierten ,Theorieelementen’, sowie aus Erfahrungs- und Alltagswissen konstituiert und von den Sprachhandelnden je aktualisiert“ (Winkler, 1988, S. 24). Die ‚Sprachhandelnden’, von denen hier die Rede ist, sind sowohl die Professionellen, die auf eine bestimmte – nämlich ‚sozialpädagogische’ – Weise über Probleme und deren Bearbeitung sprechen, als auch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die versuchen, die Entstehung von Problemen und deren Lösungen theoretisch zu erklären. Indem sie auf ‚sozialpädagogische’ Weise sprechen und entsprechend handeln, bringen sie das hervor, was als Sozialpädagogik verstanden werden kann. Dabei sind die Probleme, denen sich die Sozialpädagogik widmet, durchaus reale Probleme (ebd., S. 97) und keine lediglich ‚herbeigeredeten’ Probleme. Doch sie lassen sich erst durch den „reflexiven Rückbezug auf Kategorien und Begriffe“ eines spezifischen semantischen Systems (ebd.) – sprich: einer spezifischen sozialpädagogischen Fachsprache – als ein sozialpädagogisches Problem identifizieren.
«Sozialpädagogik entsteht im Diskurs… »




Wie entstehen sozialpädagogische Theorien?
Bernd Dollinger (2008) reflektiert in seinem wissenssoziologisch fundierten Werk „Reflexive Sozialpädagogik“ am konsequentesten auf die Theorie der Sozialpädagogik, indem er die Frage stellt, wie sozialpädagogische Theorien entstehen. Sozialpädagogische Theorien entstehen, so Dollinger, wie jede wissenschaftliche Theorie weder rein aus wissenschaftlichen Überlegungen noch aus rein praktischen Handlungs- und Problemzusammenhängen. Vielmehr sind Theorien immer sowohl in der Wahl ihrer Themen als auch in ihren inhaltlichen Färbungen entscheidend durch außerwissenschaftliche Faktoren beeinflusst. Das sind neben den zeitgebundenen Erfahrungen der jeweiligen AutorInnen (z.B. die Erfahrung der 68er) vor allem historisch spezifische Diskurszusammenhänge, d.h. kommunikativ hervorgebrachte Realitätskonstruktionen. Da in jede theoretische Wirklichkeitskonstruktion zeitspezifische Wertungen und Normalitätsprojektionen eingehen, führen auch die Gegenwarts- und Problemdiagnosen Sozialer Arbeit immer auch normative Implikationen mit. Auf sie zu reflektieren, ist – so Bernd Dollinger – (eine) Aufgabe reflexiver Sozialpädagogik.


Damit ist jedoch noch nichts darüber ausgesagt, wie sich eine spezifisch sozialpädagogische Theoriebildung charakterisieren liesse. Sie besteht – hier schliesst sich Dollinger an Winkler an – in der spezifischen Relationierung von Sozialität und Subjektivität: „Es wird eine soziale Krisensituation theoretisiert, die sozialisationsbedingt mit negativen Folgen für die individuelle Subjektkonstitution assoziiert ist“ (Dollinger, 2008, S. 95). Am Beispiel von Devianz fächert Dollinger fünf Deutungsmuster auf, die sich zur spezifischen Deutungsstruktur 2 sozialpädagogischer Theoriebildung verketten. Dabei wird deutlich: Sozialpädagogik ist wesentlich an der Konstitution des sozialen Problems beteiligt, auf die sie eine Antwort verspricht.
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Zunächst, so Dollinger, wird auf eine aktuell krisenhafte Verfasstheit der Gesellschaft verwiesen und so krisenbehafteter sozialer Ort konstruiert 3. Dieser Krisenbezug führt dazu, immer wieder gesellschaftlichen Wandel zu konstatieren und dementsprechend von einschneidenden Zäsuren auszugehen. Es kommt zu „einem empirisch nicht selten ungesicherten Beharren auf bisher unbekannten Formen sozialen Wandels, auf neuen Qualitäten sozialen Lebens und auf Strukturbrüchen aktueller Integrationswege“ (ebd., S.189). Gemeinsamer Ausgangspunkt ist für einen Großteil aktueller sozialpädagogischer Theorie die Diagnose der reflexiven Moderne und die darin zunehmende Individualisierung 4.
- Eine gesellschaftliche Krise legitimiert jedoch noch keine Sozialpädagogik. Es muss daher zusätzlich geklärt werden, wie sich die Sozialität und Subjekt vermitteln. Dazu werden Sozialisation- oder Stresstheorie eingeführt, die einzelne soziale Orte wie Familie, Peers, Schule, Gemeinde, Strasse spezifizieren, die das Subjekt wesentlich prägen.
- Eine sozialpädagogische Intervention setzt allerdings erst dann ein, wenn Subjektivität als Problem erscheint. „Der Einzelne muss in seiner Subjektivität beeinträchtigt sein und diese Beeinträchtigung muss auf soziale Bedingungen bzw. auf mögliche soziale Einflussnahmen zurückverweisen, ansonsten könnte der Diskurs über Abweichung ohne die Sozialpädagogik geführt werden“ (Dollinger, 2008, 98). Grundlage ist dabei ein Subjektbegriff, der sowohl von der Autonomie und Handlungsmacht der Einzelnen als auch seiner fundamentalen Verwobenheit mit den objektiven gesellschaftlichen Lebenslagen ausgeht.
- Die Verkettung dieser Deutungsmuster begründet dann Interventionspostulate. Sozialpädagogik, so deren Logik, sei in der Lage, den Krisen etwas entgegen zu setzen und dabei dem ganzen Menschen in seiner Subjektivität zur Geltung zu verhelfen.
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Um diese spezifische Verkettung von Sozialität und Subjektivität zu plausibilisieren brauchen sozialpädagogische Theorien diskursive Außenanbindungen. Das heißt: Sozialpädagogik stützt sich in ihrer Diagnose zentral auf Deutungsmuster, die aus anderen Wissenschaften, vornehmlich der Soziologie, Psychologie und Erziehungswissenschaft, kommen und deren Plausibilität sozial anerkannt ist. Denn nur wenn es gesellschaftlich akzeptabel ist, Sachverhalte als spezifische Probleme auszudeuten, können auf sie gerichtete Interventionsformen anschließen. Ob sich eine sozialpädagogische Theorie durchsetzt, ist mithin abhängig von diskursiven Plausibilisierungschancen und disziplinären Legitimationskriterien.
Was kann die Reflexion auf Sozialpädagogik leisten?
Diese Art der diskurs- und wissensanalytischen Auseinandersetzung ist zweifelsohne eine interessante Reflexion auf Sozialpädagogik und – wie Dollinger betont – „schlicht Grundlagenarbeit“ (Dollinger, 2008, S. 236). Doch welche Konsequenzen ergeben sich daraus für Sozialpädagogik? Dollinger sieht den Gewinn dieser Reflexion darin, dass so erörtert werden kann „welche normativen und kognitiven Prämissen in sozialpädagogische Stellungnahmen einfließen und ihnen erst den Anschein einer „Sozialpädagogik“ geben“ (ebd., 235). Dabei plädiert er insbesondere für einen bewussten, reflexiven Umgang mit Zeitdiagnosen und Krisendeutungen und der mit ihnen assoziierten Wahrnehmung von Adressaten sozialpädagogischer Leistungen (ebd., S. 199). Denn wenn „Kriseninszenierungen erfolgen, die den Adressaten Sozialer Arbeit Defizite unterstellen und sie bei fehlender Ressourcenzuwendung als Ordnungsgefahr vor Augen führen, so wäre dies problematisch.“ Es gilt daher immer wieder zu hinterfragen, welche Auswirkungen professionelles Deutungswissen der Sozialpädagogik auf das Selbstverständnis und die Alltagsbewältigung der AdressatInnen hat – wie also sowohl das professionelle Wissen als auch die institutionalisierten Praxisformen die Deutungsmuster und Handlungsvollzüge der AdressatInnen beeinflussen und indirekt steuern (vgl. Dewe/Otto 1996, S. 52). Behandelt wird diese Frage in den Ansätzen reflexiver Sozialpädagogik jedoch nur am Rande.
Wie gestaltet sich das Verhältnis von wissenschaftlichem Wissen und dem Können der Praxis?
Wenngleich alle Autoren Sozialpädagogik als Einheit von Disziplin und Profession bestimmen, so betonen sie auch zugleich die grundlegende Differenz zwischen wissenschaftlichem Wissen und dem Wissen der Praxis: Sie sind durch unterschiedliche Relevanzstrukturen strukturiert und resultieren aus unterschiedlichen Kontexten und Zeitstrukturen, in denen Wissen prozessiert wird und zur Anwendung kommt.

Wissenschaftliches Wissen bezieht sich auf den Anspruch der Wahrheit unter den im Feld der Wissenschaft herrschenden Bedingungen und ist vom unmittelbaren Handlungsdruck befreit. Es hat die Funktion, „innerhalb der Berufs- und/oder Lebenspraxis auftauchende Handlungsprobleme in ihrer strukturellen Bedingtheit stellvertretend zu deuten und die so gewonnenen Einsichten, […] an eben diese Praxis zu vermitteln“ (Dewe/Otto, 1996, S. 112). Der Vorteil (für PraktikerInnen) ist die analytische Distanz. Dennoch ist wissenschaftliches Wissen für die praktische Arbeit nicht unrelevant, denn Theorien können nachträglich erklären, was passiert ist und theoretische Optionen eröffnen und eingeschlichene Reduktionen aufbrechen (ebd., S. 17f).

Das Wissen der Praxis ist dagegen situativ und fallbezogenen, steht unter Handlungs- und Entscheidungsdruck und ist immer selbst in soziale Probleme eingebunden (Dewe/Otto, 1996, S. 14). Seine Referenz ist die Angemessenheit des Handelns in einer spezifischen Situation auf der Grundlage disziplinären Wissens (Dewe/Otto 2001, S. 1966f). Im Zentrum der professionellen Praxis steht der Einzelfall und damit „die Fähigkeit der diskursiven Auslegung und Deutung von lebensweltlichen Schwierigkeiten und Einzelfällen mit dem Ziel der Perspektiveneröffnung bzw. der Entscheidungsbegründung“ (vgl. Dewe/Otto 1984, S. 795, 1996) 5.
An der fundamentalen Differenz der Wissensformen ändert dies nichts. Sie ist, so die Forderung sämtlicher Autoren, anzuerkennen, statt durch vorschnelle Vermittlungsversuche einzuebnen. Dass wissenschaftliches Wissen stets praxisnahes Wissen produzieren könne, halten Dewe/Otto denn auch für eine unrealistische Erwartung.

Ethische Bezüge reflexiver Ansätze
Literatur
Bielefelder Arbeitsgruppe 8 (2008). Soziale Arbeit in Gesellschaft. Eine Einleitung zur Werkschau, in: dies (Hrsg.): Soziale Arbeit in Gesellschaft. Wiesbaden: VS Verlag, S. 12-21.
Dewe, B./Otto, H.-U. (2010): Reflexive Sozialpädagogik. In: Thole, W. (Hrsg.) (2010): Grundriss Soziale Arbeit. Ein einführendes Handbuch. 3. Auflage. Wiesbaden: VS, S. 197–217.
Dewe, Bernd/Otto, Hans-Uwe (2001): Profession. In: Otto, Hans-Uwe/Thiersch, Hans (Hg.) Handbuch Sozialarbeit/Sozialpädagogik. Neuwied/Kriftel, S.1399-1423.
Dewe, B., & Otto, H. (1996). Zugänge zur Sozialpädagogik. Reflexive Wissenschaftstheorie und kognitive Identität, Weinheim: Juventa Verlag.
Dewe, B. (2008): Wissenschaftstheorie, kognitive Identität und Forschung in der Sozialarbeit. In: Bielefelder Arbeitsgruppe 8 (Hrsg.) (2008): Soziale Arbeit in Gesellschaft. Wiesbaden: VS, S. 107–120.
Dollinger, B. (2008) Reflexive Sozialpädaogogik. Struktur und Wandel sozialpädagogigschen Wissens,Wiesbaden: VS-Verlag
Dollinger, B. (2007): Reflexive Professionalität. Analytische und normativ Perspektiven sozialpädagogischer Selbstvergewisserung. In: neue praxis, 37. Jg., H. 2, S. 136-151.
Füssenhäuser, C. (2008): Reflexive Sozialpädagogik: Professions- und/oder Wissenschaftspolitik?, in: Bielefelder Arbeitsgruppe 8 (Hrsg.): Soziale Arbeit in Gesellschaft. Wiesbaden: VS Verlag, 136-143.
Luhmann, N./Schorr, K.-E. (1979): Reflexionsprobleme im Erziehungssystem. Stuttgart: Klett Cotta.
- Die Exponenten dieser Ansätze favorisieren den Begriff Sozialpädagogik, da sie sich auf die geisteswissenschaftlich geprägte Theorietradition der Erziehungswissenschaft beziehen. Ihre Überlegungen beziehen sich jedoch ebenso auf die Theorien und Arbeitsfelder der Sozialen Arbeit. Der Begriff Sozialpädagogik wird dementsprechend als Synonym für die Doppelbezeichnung Sozialarbeit beziehungsweise Sozialpädagogik verwendet. Ich schliesse mich dieser Nomenklatur der Originaltexte an.
- Unter Deutungsstrukturen versteht Dollinger die Verkettungen von Deutungsmustern. Damit formuliert Dollinger einen Einwand gegen Oevermann, der davon ausgeht, Deutungsmuster antworten auf Probleme. Denn erst muss es gesellschaftlich akzeptabel sein, Sachverhalte als spezifische Probleme auszudeuten, um an diese (erfolgreiche) Definition weitere soziale Deutungen und auf sie gerichtete Interventionsformen anzuschliessen. Im Kontext der Bearbeitung und Definition von sozialen Problemen antworten daher – so Dollinger – immer nur Deutungsmuster auf Deutungsmuster.
- In Anlehnung an Winkler bezieht er sich dabei auf die Dimensionen ,sozialer Ort’ und ,Subjekt’, definiert diese jedoch inhaltlich etwas anders.
- Diese Krisen-Konstruktion als Grundlage sozialpädagogischer Theorie und Handelns lässt sich nicht zuletzt an Winklers „revidierter Theorie der Sozialpädagogik“ (2006) aufzeigen. Hier stellt er fünf Grundtendenzen der Zweiten Moderne vor (Entstaatlichung und Unmittelbarkeit von Gesellschaft, Flüssige Moderne, Verhärtung, Kontrolle und Disziplin, Spaltung der Gesellschaft sowie Ausgrenzung), die für die Sozialpädagogik Vorgabe und Gegenstand der Bearbeitung seien (ebd., 59). Auch der Ausgangspunkt der Überlegungen von Dewe/Otto ist die marktwirtschaftlich organisierte, Ungleichheit produzierende und sozialstaatliche flankierte Gesellschaft, in der die Einzelnen freigesetzt und in Verantwortung und in reflexive Bezug zu ihren Lebensverhältnissen gesetzt sind.
- Das bedeutet jedoch auch für Dewe/Otto nicht, dass professionelle sozialpädagogische Praxis damit individualistisch wäre. Vielmehr erweist sich Professionalität auch als gesellschaftspolitisches Tun, denn „die Relationierung von Theorie und Praxis ist immer auf den ,sozialen Geltungsanspruch bzw. die unterstellte gesellschaftliche Nützlichkeit‘ Sozialer Arbeit bezogen. Sozialpädagogischer Handlungsvollzug wird im Modell der reflexiven Professionalität folglich als Handeln einer ,gesellschaftlich verantwortungsvolle(n) Sozialarbeit/Sozialpädagogik‘ (Dewe/Otto 1984, S. 807), einer ,Sozialen Arbeit in Gesellschaft‘ eben verstanden (ebd.) (Bielefelder Arbeitsgruppe 8, 2008, 12)